top of page
  • AutorenbildNoemi 333

Normalisiert offender blaming!

Aktualisiert: 6. März 2023

Ich will gerade aus dem Haus, da drückt mir mein Vater einen Pfefferspray in die Hand. Ein Riesending, etwa die Grösse einer Sprühdose. Und mindestens genauso schwer. «Nimm den mit! Dann kannst du dich wehren.» Mir wird übel. Nicht vor Angst. Nein, Angst habe ich nicht! Ich knalle den Pfefferspray auf das Schränkchen neben der Tür und stürme ohne ein Wort aus dem Haus. Ich bin wütend. Im ersten Moment ist mir nicht bewusst, woher die Wut kommt. Denn darüber, dass mein Vater wirklich wollte, dass ich den ganzen Abend dieses Riesending mit mir herum schleppe, habe ich erst gar nicht nachgedacht.

Als ich später im Tram in Richtung Stadt sitze, komme ich jedoch nicht drum herum, über meinen Wutausbruch nachzudenken. Mein Vater wollte mir nichts Böses. Er hat sich Sorgen gemacht um mich und dass mir etwas zustossen könne. Aber in dem Moment, als ich so direkt damit konfrontiert wurde, dass ich möglicherweise Opfer eines sexuellen Übergriffs werden könnte, da hat sich einfach alles an der Situation falsch angefühlt. Ich war wütend, weil mir mit dem Pfefferspray die Verantwortung übergeben wurde. Ein Riesending. Als ob es meine Pflicht wäre mich zu schützen. Ich war nicht froh darüber, dass sich jemand um mich sorgte. Ich war wütend, weil sich jemand um mich sorgen musste. Weil ich draussen in der bösen Welt garantiert mit den bösen Männern[1] konfrontiert werde und ich mich dann wehren muss. So wie das jede Frau muss. Und ja, das stimmt auch zu einem gewissen Anteil. Denn jede und jeder hat schon von dem erschreckend hohen Anteil von Frauen gehört, welche Opfer von sexuellen Übergriffen wird. Leider. Aber dass es heutzutage in unseren Köpfen schon so normalisiert ist, dass das Problem bei der Opferseite liege und nicht bei den Tätern... dass mein Vater das Gefühl hat, dass er mich dazu verpflichten muss, ein Riesending zu mit mir rumzutragen, weil ich sonst ein potenzielles Opfer darstelle… da müsste es jeder und jedem übel werden vor Wut.

Wie kann es denn sein, dass Eltern ihrer Töchter von jung auf immer eintrichtern, sie solle niemals allein Unterwegs sein, sie in den Selbstverteidigungsunterricht schicken und ihr ein Riesending in die Tasche mitgeben, ihrem Sohn aber nie beibringen, er habe seine Zunge gefälligst im Zaum und seine Finger bei sich zu behalten, solange er nicht Zustimmung der Gegenüber dazu erhalten hatte? Wie kann es sein, dass ein Täter, welcher sexuell übergriffig wurde, vor Gericht freigesprochen wird, bloss weil sein Opfer im Schockzustand nicht fähig war sich zu wehren?

Das Problem ist, wie so oft, in den Köpfen von uns Menschen. Wenn wir denken, es sei die Aufgabe der Frauen, sich zu schützen. Oder wenn Opfer vor Gericht damit konfrontiert werden, warum sie sich denn nicht gewehrt hätten, und so die Schuld vom Täter auf das Opfer geschoben wird. Hört endlich mit diesem verdammten Victim Blaming auf! Es kann doch nicht sein, dass Übergriffe als Ereignisse, die eben einfach so passieren, dargestellt werden. Als läge es in der Natur der Menschen, sich gegen den willen eines Gegenübers an ihr oder ihm zu vergreifen?!

Ein Lichtblick: Die «Nur Ja heisst Ja» Kampagne hat sich bis in die Politik durchgesetzt. Doch das Lichtlein flackert auch schon wieder. Der Gesetzesentwurf ist vor den Ständerat gelangt und dort abgelehnt worden. Der Nationalrat jedoch spricht sich für die Zustimmungslösung «Nur ja heisst ja» und gegen die «Nein heisst nein»-Variante aus. Die Debatte ist eine ähnliche wie die um das Gendern: «Das bringt sowieso nichts» mit starkem «ich bin zu faul, meine alten Gewohnheiten zu ändern»-Beigeschmack. Denn die Gegner*innen argumentieren damit, dass juristisch keinen Unterschied gemacht werden könne, da sowieso Aussage gegen Aussage stehen wird. Doch das Argument der Bürgerlichen schiesst am eigentlichen Ziel der Gesetzesänderung vorbei. Sie haben zwar recht: mit der Änderung würde sich juristisch nicht viel ändern. Dafür gesellschaftlich umso mehr: Wenn wir gesetzlich dazu verpflichtet sind, eine klare Einwilligung zu sexuellen Handlungen zu geben und diese auch im Gegenzug erhalten müssen, wird es nicht nur den Tätern erschwert, ihre Handlungen zu rechtfertigen, weil ihr Opfer sich nicht unmissverständlich gewehrt hatte bzw. nicht in der Lage war sich unmissverständlich zu wehren. Auch die Opfer selbst werden ermutigt, ihre Täter anzuzeigen, da ihnen durch die Gesetzesänderung klar gemacht wird, dass die keine Schuld tragen, weil sie sich nicht gewehrt hatten. Denn nur der Täter eines sexuellen Übergriffs ist schuld an der Tat. Nicht das Opfer!

Ich wünsche mir, dass die Gesetzesänderung «Nur Ja heisst Ja» angenommen wird. Das wäre endlich eine Lösung, die gesellschaftlich etwas verändern würde. Nur Ja heisst Ja und das sollte in all unseren Köpfen so verankert sein, wie es hoffentlich bald im Gesetzbuch verankert sein wird. Denn ich (und sicherlich auch ein grossteil aller Frauen) will nicht dazu verpflichtet sein, für den Rest meines Lebens mit einem Riesending in den Ausgang zu gehen.

[1] Ich schreibe in diesem Text der Einfachheit halber von männlichen Tätern und weiblichen Opfern, da dies hauptsächlich in dieser Konstellation der Fall ist. Mir ist aber klar, dass Täter- oder Opferrolle, nicht vom Geschlecht abhängt.

8 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen
bottom of page