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Regen

  • Autorenbild: Noemi 333
    Noemi 333
  • 8. Dez. 2022
  • 3 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 12. Jan. 2023

Jede Faser seines Körpers ist angespannt. Verkrampft. Doch er merkt es nicht. Umringt von einer schwarzen Masse steht er da. Er steht bloss da. Den leeren Blick vor sich abgelegt. Bis auf das Seufzen des verhangenen Himmels ist es still. Vor ihm ein Loch. Und darin ein Teil seines Herzens, brutal herausgetrennt aus seinem Körper und hineingelegt in die kalte Grube. Doch es fliesst kein Blut. Desshalb bemerkt er auch nicht, dass ein Stück von ihm fehlt. Eigentlich hätte er schreien wollen. Schreien, toben, alles in Stücke schlagen. Weinen, schluchzen, die Tränen fliessen lassen. All das hätte er gewollt. Er zwingt seine Lieder dazu, sich zu schliessen. Sie gehorchen widerwillig. Das ist die einzige Bewegung, die von ihm ausgeht. Denn er ist taub geworden über die Jahre. Das bebende Wesen in ihm spürt er schon lange nicht mehr. Seine Bitte, es doch endlich wieder freizulassen, wird von seinem Unterbewusstsein überhört.

Schuhsohlengeklapper auf hartem Boden. Die schwarze Masse löst sich endlich von ihm. Die Mäntel, die Menschen in sich tragen, sehen aus, wie eine Flüssigkeit, welche von ihm davonfliesst. Wabernde, dunkle Flüssigkeit. Das Bild hat etwas Beruhigendes. Er beobachtet das schwarze Wesen, das sich immer weiter von ihm entfernt, bis es schlussendlich verschwunden ist. Er zuckt zusammen. Ein Flugzeug taucht mit ohrenbetäubendem Krach in eine der grauen Wolken über ihm ein. Die erdrückende Stille ist gebrochen. Seine Hand richtet die Krawatte und seine Beine tragen ihn in schnellem Schritt Richtung Friedhofsausgang.

Heute hatte er ausnahmsweise seinen Sportwagen zuhause gelassen. Er wusste nicht wieso. Aber er hatte das Bedürfnis verspürt, heute zu Fuss zu gehen. Er nahm auch nicht den direkten Weg durch die Stadt, sondern lief auf dem Waldweg. Was an anderen Tage so gar nicht seine Art war, fühlte sich heute richtig an. Und so geht er denselben Waldweg, den er heute schon in die andere Richtung gegangen war, ein weiteres Mal. Auf dem Hinweg war er mit seinen Gedanken noch bei der Arbeit gewesen. Seine Sekretärin hatte wieder einmal ein Problem mit dem Drucker gehabt. Doch jetzt nimmt er seine Umgebung richtig wahr. Er erblickt die Gräser, Bäume und Farne. Ihre Formen und Strukturen. Die Erdtöne und das matte Grün des Waldes erfüllen ihn. Die Tropfen auf den Blättern. Der Wind der in den Bäumen flüstert. Er spürt, wie die feuchte Waldluft in seine Lungen strömt. Sie werden ausgefüllt und abgekühlt. Erst jetzt bemerkt er, wie heiss ihm die ganze Zeit schon war. Nicht nur heute. Schon lange. Seine Sinne saugen den Wald auf. Und da ist sie. Die Erinnerung. Seine Erinnerung. An ihn. An das Stück seines Herzens, das ihm jetzt fehlt. Ein stechender Schmerz durchzuckt ihn wie ein Blitz. Doch der Schmerz währt nicht lange. Er verwandelt sich in behagliche Wärme. Umschliesst sein Herz und strahlt von dort aus in seinen ganzen Körper.

Früher hatte er diese Wärme oft gefühlt. Früher. Als er noch lebte. Nicht nur sein Vater, auch er selbst. Gelebt hatte er und gefühlt. Gelacht, getobt, geweint, gekichert, geliebt. Geliebt hatte er. Seinen Vater. Und das Leben. Er erinnert sich an die vielen Stunden, die er und sein Vater damit verbracht hatten, durch den Wald zu kriechen, die Pflanzen zu beobachten, Käfer zu fangen, Vögeln zuzuhören und Hütten aus Fallholz zu bauen. Und dann war er erwachsen geworden. Hatte das Wesen in sich weggesperrt, welches ihn fühlen liess. Er hatte es zum Verstummen gebracht. Seine Arbeit war wichtiger geworden, als Zeit mit seinem Vater zu verbringen. Und keine Gefühle zu zeigen war wichtiger als…

Abrupt bleibt er stehen. Wichtiger als was? Für was hatte er sich Jahrelang damit kaputt gemacht, keine Gefühle mehr zu zeigen? Er wollte keine Schwäche zeigen, war so weit gegangen, sogar den Schmerz der Unterdrückung seiner Gefühle hatte er erstickt. Eine leere Hülle war er geworden. Und überlebt hatte er nur, weil das Wesen, das kleine Etwas in ihm, stark genug gewesen war und nicht mit erstickt ist. Nun ist sein Moment gekommen. Denn ein Teil des Herzens fehlt. Sehnsüchtig schlüpft das Wesen in das Loch und füllt es auf, noch bevor er etwas dagegen tun kann. Und dann ist es schon zu spät. Sein Herz ist wieder vollkommen. Das Wesen seufzt vor Glück.

Er spürt, wie seine Augen wässrig werden. Als er in den Himmel blickt, nimmt er bloss verschwommene Umrisse der Äste über ihm wahr. Der mit Wolkenbergen verhangene Himmel blickt auf ihn nieder. Und er beginnt zu regnen.

 
 
 

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